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Donnerstag, 4. August 2011

War das schon alles?

Als ich ihn zum ersten Mal sah - fünfundsechzig, sprühend vor Charisma und Energie - da war ich wirklich geblendet. Und geblendet war das richtige Wort. Ich wollte ihn beeindrucken mit meiner Intelligenz, und er schien sich an meinem Eifer zu erfreuen. Ich drehte voll auf, gab mein Letztes. Ich sah seinen Reichtum, sah, wozu er es gebracht hatte, wollte dasselbe erreichen. Dass die Menschen mich anschauen und sagen "wow!".
Aber nach einigen Wochen fing der Glanz an, mich zu ermüden. Konnte es sich tatsächlich nur darum drehen, wie viele fünfstellige Zahlen er wofür ausgegeben hatte? 100'000 im Jahr fürs Postporto, 70'000 im Monat für die IT-Abteilung... Ich merkte, dass er seine Mitarbeiter um sich haben wollte. Wieso? Ich fragte mich, wieso dieser Mann es überhaupt noch nötig hatte, selbst mitzuarbeiten. Bis ich verstand: er hatte es überhaupt nicht nötig. Ja, er hatte Spass daran. Aber vor allem spürte ich seine Einsamkeit. Natürlich kenne ich sein Leben nicht. Ich stelle es mir nur sehr einsam vor - ständig am Arbeiten, ständig daran, an der Karriere zu feilen, Beziehungen gehen in die Brüche oder "entschlafen" still, weil man keine Zeit dafür hat, die Arbeit frisst alles auf, bis nur noch die Arbeit selbst übrig bleibt. So sah ich ihn am Ende, bevor ich die Stelle wechselte. Vereinsamt, körperlich angeschlagen, allein mit einem Haufen Geld und einigen oberflächlichen Freunden.
Wo waren die Leute, die ihn liebten? Wo die Leute, die ihm zuhörten, wenn er sich sorgte oder ängstigte, wo die, die seine Verletzlichkeit sahen? Hat er jemals menschliche Wärme erfahren?
Ich stelle es mir sehr einsam vor, auf dem Sterbebett zu liegen und nichts als einen Haufen Geldscheine zurückzulassen. Auf das Leben zurückblicken zu müssen und zu merken, dass man vielleicht verpasst hat, worum es im Leben wirklich geht: zu leben.
Das ist Minimalismus - anzuhalten und zu erkennen, was einem im Leben wirklich wichtig ist. Bedürfnisse nach Zuneigung lassen sich nicht durch Geld befriedigen, nicht durch Arbeiten im Hamsterrad, nicht durch Konsum. Wenn ich eines Tages sterbe, möchte ich, dass meine letzten Sätze lauten: "Es gab wundervolle Zeiten, es gab tolle Freundschaften, ich hab viel erlebt - es gab beschissene Phasen, aber aus jeder bin ich stärker hervorgegangen und hab dazu gelernt. Ich hab alles erlebt, was ich erleben wollte, hab wirklich gelebt. Ich hab mein Glück gefunden und ruhe in mir. Es ist okay, zu sterben. Es gibt nichts mehr, das ich verpassen könnte."

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